Liebe Gemeinde,
„Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt euere Herzen nicht.“ – so haben wir es in der Schriftlesung am Anfang dieses Gottesdienstes gehört.
Wenn Gott redet, soll der Mensch schweigen. Dann sollen alle Stimmen, die uns umgeben, die uns beeinflußen und uns ablenken wollen, verstummen. Für manche redet er vielleicht am Sonntag morgen im Gottesdienst in den Worten der Heiligen Schrift. Für andere bei der Taufe eines Kindes, im Traugespräch oder in den Worten des Pfarrers am offenen Grab. Wieder andere hören ihn reden, wenn sie zuhause alleine oer mit Freunden die Bibel lesen und beten. Es gibt Menschen, die hören seine Worte durch die Zuwendung eines Freundes, eines anderen Menschen. Ein offenes Herz ist immer gefragt, wenn Gott redet. Einstellen soll sich der Mensch auf seine Worte, sich nicht vor ihnen verschließen.
Doch was für Worte sind das, für die unser Herz offen ist? Welche Worte wecken Vertrauen in uns, so daß wir uns ihnen öffnen und uns auf sie einlassen? Wenn es ihnen, liebe Gemeinde, da wie mir geht, dann erwarten auch Sie warme, herzliche, freundliche Worte. Worte, die mich ernst nehmen, die mir zu Herzen gehen. Solche Worte wollen wir hören, auf sie warten viele Menschen oft ihr ganzes Leben vergeblich. Manche von uns, auch und gerade Jugendliche, bekommen nur harte, böse Worte zu hören, Worte, die sie zurechtweisen, die ihnen sagen, daß sie sich anders verhalten sollen: Sitz gerade, iß anständig, sei ruhig. Auf ein freundliches Wort warten manche Menschen vergeblich.
Und nun lesen wir in unserem heutigen Predigttext, wie das Wort Gottes beschaffen ist, welche Wirkung es auf die Menschen hat – und wir erschrecken. Hören wir auf den Text aus Hebr. 4,12-13:
Lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden.
a) Die Eigenschaften des Wortes Gottes
Ein lebendiges Wort – das werden wir zu Recht erwarten, wenn der lebendige Gott spricht. Denn tote Worte und Gedanken haben wir genug um uns herum. Wir lechzen geradezu nach einem treffenden Wort, das uns anspricht. Aber warum soll dieses lebendige Wort Gottes dann schärfer als ein zweischneidiges Schwert sein, warum wird von ihm gesagt, daß es soweit durchschneiden kann, bis der Mensch mitten entzwei gerissen ist in Seele und Geist, Gelenk und Mark? Warum soll ein lebendiges Wort soviel zerstörerische Kraft haben dürfen?
Wenn wir dann noch hören, daß dieses Wort ein Urteil fällt über den Menschen, über alle seine innersten Regungen und Gedanken, und dieser Gott alles weiß und sieht, was wir so geschickt vor den Augen anderer zu verbergen wissen, dann ist uns vollends der Spaß vergangen.
„Gott sieht alles!“, sagt die Mutter zum ungehorsamen Kind und ihr drohender Zeigefinger fuchtelt bedrohlich in der Luft.
Mancher Schüler denkt bei diesen Worten vielleicht an sein Halbjahreszeugnis, daß er vor einigen Tagen nach Hause gebracht hat. Schwarz auf weiß steht es dort, wie ihn andere Menschen bewerten, wie sie mit ihren Noten ein Urteil fällen über sein Können, über sein Wissen, sein Verhalten, seine Motivation.
Ein anderer denkt an die letzten Bewerbungen, die er losgeschickt hat. Bekomme ich einen Arbeitsplatz – Konnte ich mich beim Bewerbungsgespräch gut verkaufen, habe ich meine Schwächen gut verstecken können? Man muß sich ja ganz schön entblößen bei diesen Tests! Bin ich nicht viel zu dumm dazu, zu schwach, mit meinem ausreichend in Mathe habe ich wohl ziemlich schlechte Karten in meinem Traumberuf. Denn wo die Spreu vom Weizen getrennt wird, da falle ich raus. Ich bin dem nicht gewachsen. Dann geht man zum Briefkasten und nimmt den großen Umschlag heraus. Man bekommt ihn vor Zittern gar nicht heraus, weil man doch hofft – und schließlich ist es wieder eine Ablehnung. Auf Herz und Nieren geprüft und – durchgefallen.
Auch in der Kirche hat man im Laufe der Jahrhunderte die Fähigkeit verfeinert, Menschen zu beurteilen, über sie zu richten und sie zu überwachen. Die Kirche hat Gott den Menschen zu oft als den großen Bruder dargestellt, ganz ähnlich wie es auch George Orwell in seinem Roman „1984“ getan hat. „Der Große Bruder sieht dich an! Er ist ein Richter über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und aufgedeckt vor seinen Augen.“
Der Große Bruder im Beichtstuhl – Gott sieht alles, Gott hört alles – gestehe, du Sünder, auch die geheimsten Regungen deines Herzens, damit er dir wieder gnädig sein kann.
Der Große Bruder auf der Kanzel – Gott sieht alles, Gott hört alles – also glaube der reinen Lehre, bekehre dich zum Christentum, wach endlich auf und werde aktiv.
Der Große Bruder in der Gemeinschaft der Heiligen – Gott sieht alles, Gott hört alles – also brauchst du auch vor deinen Brüdern und Schwestern nichts zu verstecken. Du kannst auf die Gardinen vorm Fenster verzichten.
Der Große Bruder sieht dich an! Wer ist der große Bruder? Wo ist er? Sitzt er in den Hirnen derer, die den großen Lauschangriff planen unter Hinweis darauf, die Verfassung schützen zu wollen? Nistet er in uns selbst, in unseren Wünschen, über andere zu herrschen und in unseren Ängsten, von anderen beherrscht zu werden? Thront er über uns als jene unheimliche Macht, deren Auge alles sieht und deren Hand alles Böse zerschlägt? Wo ist der Große Bruder?
Liebe Gemeinde, der Hebräerbrief gibt uns auf diese drängende Frage eine erleichternde Antwort. Denn er redet davon, daß sich dieser Gott, dieser Alleswisser, dieser Alleskönner und Richter offenbart hat in einem Menschen, der uns ganz nahe gekommen ist. Zwei Verse nach unserem Text sagt der Hebräerbrief: Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat Laßt uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit.
Wenn es stimmt, daß sich dieser Gott, dessen Wort eine solche Kraft und Macht hat, in diesem leidenden und sterbenden Menschen Jesus Christus, dem Bruder aller Menschen, offenbart hat, dann dürfte man in seinem Namen den Leidenden und Angefochtenen keine Angst machen. Dann ist jeder erhobene Zeigefinger fehl am Platz. Dann sollten wir aufhören, im Namen Gottes über andere zu Gericht zu sitzen. Und dann müßte der Satz, daß Gott alles sieht, nicht als eine bedrohliche, sondern als eine befreiende Wahrheit zu verstehen sein.
„Es liegt alles nackt und aufgedeckt vor den Augen Gottes.“ Das könnte, im Sinne Jesu verstanden, bedeuten: Gott erträgt alles. Er allein hält es aus, alles zu sehen und alles zu wissen, was hier auf unserer Erde geschieht. Alles Böse und Gemeine, alles unsägliche Elend und unmenschliche Leiden. Er hält es aus, zerstrittene Familien und drogenabhängige Kinder und Jugendliche zu sehen. Er sieht deren Eltern und Erzieher, die ihnen gegenüber hilflos sind. Er hält es aus, die Armut dieser Welt zu sehen und den unermeßlichen Reichtum der westlichen Länder, der sich nicht erbarmen kann. Er hält es aus, unsere Gemeinde in Weinsberg zu sehen, mit all unseren Stärken und Problemen, die uns bewegen, mit aller Zerstrittenheit und Eifersucht, mit all unseren Ängsten. Und er hält es aus, jeden einzelnen von uns zu sehen und zu kennen, mit all seinen Träumen, Hoffnungen und Lebenslügen. Gott ist fähig, all das zu ertragen, ohne es auszurotten, ohne es zu verdrängen, ohne davor zu fliehen. Er gibt sich in Jesus Christus ganz hinein und lebt und leidet mit uns Menschen.
Und genau dort hinein, in all unser Leid, all unsere Freude – da hinein spricht Gott sein lebendiges Wort. Denn nur ein Wort, das wirklich lebendig ist, geht uns durch Mark und Bein, nur ein lebendiges Wort berührt uns ganz tief innen und hat auch die Kraft, uns neu zu machen, unsere Haltung, unsere Einstellung nachhaltig zu verändern.
In einer Zeit, in der Worte Massenware sind und gleichzeitig immer wertloser werden; in einer Zeit, in der man den Satz hören kann: Was geht mich heute mein Geschwätz von gestern an; in einer Zeit, in der man immer weniger sicher sein kann, ob die Worte, auf die ich wir uns verlassen, auch wirklich tragen – in einer solchen Zeit der toten Worte ist es dringend notwenig, ein lebendiges Wort zu hören, das uns wirklich trifft.
Solch ein lebendiges Wort macht nicht halt vor meinen inneren Geheimkammern, vor den Bereichen meiner Seele, die ich bisher gut vor anderen Menschen und manchmal auch vor mir selbst versteckt habe. Das Wort Gottes redet dort hinein, wo ich anderen kein Mitspracherecht erlaube und meine, allein entscheiden zu können. Es gibt vor Gott kein Heil, wenn ich nicht bereit bin, mich vor Gott ohne jede Beschönigung zu zeigen, wie ich wirklich bin. Gott verlangt, daß mir die Augen aufgehen über die Welt und über mich selber. Ich kann mich ihm zeigen, ohne die vielen kleinen und großen Lebenslügen, all die Selbstrechtfertigungen, die ich im Laufe meines Lebens gelernt habe.
Liebe Gemeinde, Gott sieht den Menschen wie er wirklich ist, er kennt jeden so, wie ihn keiner kennt, weil er vor lauter Angst seine Masken niemals abnehmen kann.
Es kommt darauf, wessen Stimme wir hören, wenn Gott zu uns spricht. Der christliche Glaube sagt: Jesus spricht zu uns, seine Stimme ist es, der wir folgen. Er spricht uns an, weil er uns kennt, weil er uns wahrnimmt, wie wir wirklich sind,. Wir brauchen wir vor ihm kein Theater zu spielen, brauchen nicht den anständigen, netten Menschen von neben an zu spielen, sondern können unsere Masken fallen lassen. Er wird sein Wissen nicht mißbrauchen.
Wer in einem solchen Vertrauen zu Gott lebt, der wird die Worte des 139. Psalms, den wir eingangs gebetet haben, nicht als Drohworte, sondern als heilsame Worte verstehen: „Von allen Seiten umgibt du mich und hälst deine Hand über mir.“ Amen.