Liebe Gemeinde,
es gibt Menschen, die hohe Erwartungen an christliche Gemeinden haben. Hören wir drei Beispiele:
Eine Frau, Mitte vierzig, sagt: „Die christliche Gemeinde soll sich unterscheiden von dem, was wir sonst erleben. Da darf es keinen Streit geben. Christen sollen sich bemühen, einander zu verstehen. Und wenn es Unstimmigkeiten gibt, müssen diese geklärt werden. Aber dauerhafter Streit darf in einer christlichen Gemeinde nicht sein.“
Ein Jugendlicher, 17 Jahre: „Von Menschen, die sich Christen nennen, erwarte ich soziales Engagement. Die Gemeinde muß irgend etwas dagegen unternehmen, daß Jugendliche keine Arbeit finden. Was genau, weiß ich auch nicht. Aber Christen dürfen nicht einfach zusehen. Eine christliche Gemeinde darf auch nicht elitär sein – in ihr müssen Arme und Reiche Platz haben.“
Ein Familienvater, Anfang 30, sagt: „Wir sind vor kurzem nach Weinsberg umgezogen und haben niemanden gekannt. Wir sind in den Gottesdienst gegangen, um Kontakt zur Gemeinde zu finden. Von einer christlichen Gemeinde erwarten wir Offenheit und menschliche Nähe. Da sollte man spüren, daß der gemeinsame Glaube Menschen verbindet.“
Diese drei Menschen haben hohe Erwartungen an eine christliche Gemeinde. Aber alles ist so gesagt, als hätte es da auch schon Enttäuschungen gegeben. Es klingt so, als hätten die drei gemerkt: was wir suchen, haben wir nicht gefunden. Die christlichen Gemeinden erfüllen nicht die hohen Erwartungen, die an sie gestellt werden.
Wer hinter die Kulissen blickt, entdeckt, daß christliche Gemeinden keineswegs ohne Streit leben. Manchmal sagt man so schön: „Es menschelt halt überall.“
Leider ist es auch manchmal so, daß in politischen und sozialen Fragen ein hoher moralischer Anspruch aufgerichtet wird, der schon durch das eigene Verhalten „im Kleinen“ nicht eingelöst werden kann.
Und schließlich werden viele Gemeinden zugeben müssen, daß sie zwar durchaus schöne Gottesdienste feiern, es aber fraglich ist, ob sie als Gemeinschaft anziehend sind. Ob der „Fremde“ wahrgenommen wird, der Gemeinschaft und menschliche Begegnung sucht?
Welche Ansprüche haben Sie an eine christliche Gemeinde? Finden Sie sich in den Äußerungen der drei Personen wieder? Sind ihre Ansprüche anders? Wir wollen heute miteinander über Ansprüche an christliche Gemeinden und über die Wirklichkeit christlicher Gemeinden nachdenken. Wir hören dazu einen Abschnitt aus der Apostelgeschichte des Lukas:
41 Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen. 42 Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. 43 Es kam aber Furcht über alle Seelen, und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. 44 Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. 45 Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. 46 Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen 47 und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.
Lukas stellt den Lesern und Hörern seiner Apostelgeschichte mit diesen Worten ein „Idealbild“ einer christlichen Gemeinde vor Augen. Welche Gemeinde beschreibt Lukas? Vier Kennzeichen nennt er, an denen eine christliche Gemeinde erkannt werden kann: Lehre, Gemeinschaft, Brotbrechen, Gebet.
Erstens die Lehre: Gemeinde ist Lerngemeinschaft. Im lebenslangen gemeinsamen Lernen, Lesen der Bibel, im Nachdenken über die Worte Jesu und der Apostel, werden wir daran erinnert, daß wir nicht die Wurzel vergessen sollen, auf die unser Glaube sich beruft. Im gemeinsamen Lernen in Kinderkirche, Jungschar, Religions- und Konfirmandenunterricht, in Haus- und Bibelkreisen, in Vorträgen und Bibelwochen, geben wir uns gegenseitig weiter, was uns von Gott her gesagt ist und unser Leben prägen soll. In der Lerngemeinschaft der christlichen Gemeinde wird unser Glaube für uns entfaltet, erklärt und gedeutet.
Zweitens die Gemeinschaft: Gemeinde ist Solidargemeinschaft. In dieser Solidargemeinschaft soll soll der Einsamkeit entgegenwirken und der egoistischen Gier gewehrt werden. Die Gemeinschaft schafft eine Atmosphäre des Aufeinanderachtens. Die Gemeinschaft verscheucht die Gleichgültigkeit und fördert das Interesse aneinander. Sie behält alle im Blick und stellt sich gegen die Anhäufung von Privatbesitz einzelner. Vielmehr strebt sie die Ausgewogenheit von Besitz an. Sie bringt die Menschen dazu, auf Eigentum zu verzichten, um den Erlös je nach Notwendigkeit zu verteilen. Wenn auf unserer Erde ständig 400 Millionen Menschen am Rande des Hungers leben, dann geht das eine christliche Gemeinde unmittelbar an. Diese Verantwortung kann aber nicht nur über die großen sozialen Werke wie Brot für die Welt oder Caritas wahrgenommen werden, sondern wird auch vor Ort, direkt in unserer Weinsberger Gemeinde ernstgenommen und umgesetzt: in der örtlichen Diakonie, der Schuldnerberatung, der Nachbarschaftshilfe und nicht zuletzt im Arbeitskreis Asyl.
Drittens das Brotbrechen: Gemeinde ist Mahlgemeinschaft. Brotbrechen ist die urchristliche Bezeichnung für die Feier des Abendmahls. Wir können im gemeinsamen Brotbrechen Gottes Wort schmecken, fühlen und sehen. Mit all‘ unseren Sinnen läßt sich das Wunder des Glaubens erfahren. Wer von dem Brot Gottes gekostet hat, bleibt nicht mehr kalt gegenüber der Welt, seinen Mitmenschen. Die Sinne erwachen, sie nehmen die Umgebung bewußt wahr. Wir können die Not anderer sehen und empfinden. Wir sind fähig zum Teilen und Abgeben, weil wir wissen, daß alles, was uns ausmacht und was wir haben, eine Gabe auf Zeit ist. Wer von dem Brot Gottes gekostet hat, findet tröstende Worte für Trauernde und hat ein offenes Ohr für die Nöte anderer. Im gemeinsamen Brotbrechen verwandelt uns Gott. Er macht uns sensibel für seine Welt. Er überträgt uns Verantwortung für seine Schöpfung. Und alle sollen es hören: Solange du deine Füße unter Gottes Tisch stellst, bist du Gottes Kind.
Viertens das Gebet: Gemeinde ist Gebetsgemeinschaft. Das Gebet ist der Weg zu Gott. Es konzentriert uns auf die Mitte des Lebens; es hilft uns, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Im Gebet wagen wir es, eine andere Wirklichkeit zu betreten. Wir setzen uns dem Bereich Gottes aus. Wir gehen in seinen Raum über und übergeben uns einer anderen Macht als der unseres Alltags. Wer betet, sucht Orientierung für sein Leben und Klärung in den Wirrnissen der Zeit. Und – das kann ich selbst bezeugen – man spürt es, wenn Menschen für einen beten. Ein Pfarrer, der Gemeinde leiten soll, wird es merken, ob seine Gemeinde ihn im Gebet unterstützt oder es bei Worten beläßt. In den Pfingstferien haben wir als Gemeinde die Türkei besucht und hatten dort auchb Kontakt zu türkischen Christen, die bekanntlich unter schwierigen Umständen ihren Glauben leben. Die Bitte des dortigen Bischofs an uns Christen in Europa war: Bitte betet für uns hier in der Türkei. Wir wissen, welche Macht das Gebet hat. Solange es Gemeinde als Gebetsgemeinschaft gibt, umspannt ein Netzwerk guter Gedanken und Gebete die Welt, damit sie nicht heillos zusammenfällt.
Schön, werden manche sagen, liebe Gemeinde, das ist ein tolles Urbild, das uns Lukas hier vor Augen malt.
Aber ist das Realität? Kann das wahr werden, dieser Anspruch, der hier an uns als Gemeinde gestellt wird? Können Christen so leben? Manch einer wird bei diesem „Ideal“ zurückschrecken. In einem Bibelgesprächskreis, der über diesen Text redete, sagte jemand: „Ich wüßte gern mehr über die Situation: wie’s dazu kam; was das für Menschen waren; und was für eine Zeit.“ Jemand anderes sagte: „Das ist, als würde der Alltag ausgeblendet oder wegfallen. Denn da scheint gar kein Platz mehr für zwischenmenschliche Konflikte gewesen zu sein. Das klingt wie nach einer Sekte.“
Es mag sein, daß in Jerusalem nach Pfingsten einige versucht haben, so miteinander ihren Glauben an den auferstandenen Christus zu leben. Der Wirklichkeit der ersten Gemeinden wird dieses Ideal aber damals so wenig entsprochen haben wie heute.
In der weiteren Darstellung der Apostelgeschichte nämlich werden Konflikte und Enttäuschungen ebenso geschildert wie Rückschläge und Bedrohung der Gemeinden. Vor allem in den Briefen des Apostels Paulus wird deutlich, daß das Gemeindeleben der ersten Gemeinden keineswegs einem Idealbild entsprach. Da wurde um Fragen der Lehre und des richtigen Verhaltens gestritten. In Korinth gab es massiven Steit zwischen den armen und den reichen Gemeindegliedern. Und vermutlich spielten bei manchen Konflikten persönliche Eitelkeit und persönliche Interessen eine nicht unerhebliche Rolle.
Lukas wird die christlichen Gemeinden nicht anders erlebt haben als Paulus auch. Da waren Menschen, die von Gottes Geist angerührt waren. Da waren Menschen, die versuchten, ihren Glauben an Jesus Christus zu leben. Es waren Menschen mit Gaben und Begabungen und mit Schwächen und Fehlern!
Warum beschreibt er dann aber eine ideale Urgemeinde, eine Gemeinde, die es so vielleicht nie gegeben hat?
Diese Beschreibung ist ein Glaubensbekenntnis. Es ist das Bekenntnis, daß Gott an Pfingsten in Jerusalem begonnen hat, unter uns Gemeinde zu bauen. Das ideale Urbild ist die Beschreibung der Gemeinde, der wir entgegengehen. Es ist die Gemeinde, die erst bei Gott vollendet wird. Es ist, wenn Sie so wollen, die „Gemeinschaft der Heiligen“, zu der auch wir uns in unseren Gottesdiensten Sonntag für Sonntag bekennen. Es ist die „Gemeinschaft der Heiligen“, zu der uns Christus berufen hat, die wir aber hier und jetzt nur sehr unvollkommen sind.
Es ist wichtig, daß wir diese Unterscheidung erkennen. Die „Gemeinschaft der Heiligen“ ist etwas, was wir glauben. Sie ist nichts, was wir Tag für Tag erfahren. Vielleicht erleben wir manchmal etwas davon, aber das ist dann Geschenk und nicht das Ergebnis gemeinschaftlicher Anstrengung.
Dietrich Bonhoeffer hat dies sehr schön beschrieben. Er schreibt: „Es gibt wohl keinen Christen, dem Gott nicht einmal in seinem Leben die beseligende Erfahrung echter christlicher Gemeinschaft schenkt. Aber solche Erfahrung bleibt in dieser Welt nichts als gnädige Zugabe über das tägliche Brot hinaus. Wir haben keinen Anspruch auf solche Erfahrungen, und wir leben nicht mit andern Christen zusammen um solcher Erfahrungen willen. Daß Gott an uns allen gehandelt hat und an uns allen handeln will, das ergreifen wir im Glauben als größtes Geschenk, das macht uns froh und selig, das macht uns auch bereit, auf alle Erfahrungen zu verzichten, wenn Gott sie uns zu Zeiten nicht gewähren will. Im Glauben sind wir verbunden, nicht in der Erfahrung.“
Liebe Gemeinde!
Im Glauben sind wir verbunden, nicht in der Erfahrung! Das ist eine Einsicht, die uns freimachen kann. Sie kann uns freimachen von überzogenen Erwartungen, die zwangsläufig enttäuscht werden. Sie kann uns auch davon freimachen, über andere Christen zu richten, weil wir an ihnen sehen, wie sie christlichen Ansprüchen nicht genügen. Und diese Einsicht kann uns davor schützen, Gemeinde und Gemeinschaft nach unseren Wunschvorstellungen und Träumen machen und erzwingen zu wollen.
Lukas bekennt sich auf seine Weise – sehr bildlich und konkret – zur „Gemeinschaft der Heiligen“. Bekennen wir uns auch zu dieser „Gemeinschaft der Heiligen“? Dann lassen Sie uns vertrauen darauf, daß Gott unter uns wirkt, und lassen Sie uns beständig bemüht bleiben – um die Lehre der Apostel, um die Gemeinschaft, das Brotbrechen und das Gebet. Amen.
Lk 2,41-52 (Andacht)
Liebe Gemeinde,
„Loslassen können“ ist eine schwierige Aufgabe. Immer wieder erlebe ich Situationen in meinem Leben oder höre in Gesprächen von Erlebnissen anderer Menschen, wie schwer es fällt, etwas oder jemanden loszulassen. Es fällt uns besonders dann schwer, wenn wir es lange Zeit gewohnt waren, diese Sache fest im Griff zu haben, z.B. den eigenen Beruf, der einem wichtig war und der dem Leben den Rahmen und ein gut Stück auch den Sinn gegeben hat.
„Loslassen können“ – dahinein gehört auch die Erfahrung, Kinder, Enkel oder überhaupt einen Menschen, den man liebhat und für den man eine gewisse Verantwortung trägt, allein, unbeschützt, unberaten in eine ungewisse Zukunft gehen zu lassen.
Zum Loslassen-Können gehört auch die Erfahrung, daß mich mein Kind, mein Enkel vielleicht nicht mehr braucht, um sein eigenes Leben gestalten zu können. Man wird nicht mehr bei jeder Entscheidung gefragt, man hat das Gefühl, daß der andere einen nicht mehr so dringend braucht.
Das Lukasevangelium erzählt, wie auch die Eltern Jesu eine solche Erfahrung mit ihrem Sohn machen mußten. Wir lesen in Lukas 2:
41 Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem.
42 Als Jesus zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach.
43 Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne daß seine Eltern es merkten.
44 Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten.
45 Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort.
46 Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen.
47 Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten.
48 Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen, und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.
49 Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört?
51 Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.
52 Jesus aber wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.
Wenn man diese Geschichte so hört, fragt man sich: Ist es nicht begreiflich, daß die Eltern Jesu in Panik geraten, wenn ihr Sohn verlorengegangen ist? Sie, liebe Seniorinnen und Senioren haben vielleicht auch so etwas mal erlebt, daß ein Kind oder Jugendlicher verlorengegangen war oder ausgerissen ist. Erinnern Sie sich noch, wovor Sie damals Angst hatten, welche Gedanken mit ihnen umgingen?
Warum fällt uns das so schwer, loszulassen? An der Verantwortung, wenn man bei den Jungen bemerkt, wie unselbständig sie sind und wie unvorbereitet sie in Leben laufen?
Liegt es am Besitzen-wollen? „Mein Kind! Mein Freund! Meine Enkelin!“ Sitz man so auf dem, was man als Eigentum betrachtet, daß man es sich nicht mehr frei bewegen kann und schon gar nicht weglaufen?
Oder liegt es gar an fehlendem Vertrauen? Ich traue Gott nicht genug zu, daß er die Führung des mir bisher anvertrauten Menschen in die Hand nimmt? Traue ich mir selbst mehr zu als ihm? Mehr Führungsfähigkeit, mehr Schutzfähigkeit?
Jesus hat seinen Eltern geantwortet: „Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört?“ Er mutet seinen Eltern zu, ihn in die Arme seines himmlischen Vaters zu entlassen, ihn loszulassen. Er mutet ihnen Gottvertrauen zu, daß er seinen eigenen Weg als Kind gehen kann. Das tut weh, das ist nicht leicht.
Gott gebe ihnen und mir die Kraft, in unserem Leben Dinge oder Menschen loszulassen, immer dann, wenn es wichtig und nötig ist.