Die MJA in der Innenstadt und im Europaviertel ist, so Fregin, einer der zentralen Bausteine, um die Ursachen der sogenannten Krawallnacht zu verstehen. Sie hat zur Aufgabe, die Kommunikation zwischen Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Polizei etc. auf der einen und jungen Menschen auf der anderen Seite zu verbessern. Bedarfsgerechte Angebote sollen entwickelt werden. Ein damit verbundenes großes Ziel ist nicht weniger als die Entstehung einer „jugendgerechten Innenstadt“ – nämlich laut Projektbeschreibung „demokratisch, solidarisch, gewaltfrei, inklusiv, gerecht und frei zugänglich“. Acht Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wirken bei dem Projekt mit, vier davon von der Evangelischen Gesellschaft und vier von der Caritas Stuttgart.
Wie können wir uns das vorstellen: Wann sind Sie „auf der Straße“ unterwegs und mit wie vielen und mit welchen jungen Menschen haben Sie Kontakt?
Simon Fregin: Oft gehen wir ab 17 Uhr in die Innenstadt, bis in die Nacht hinein. Vom 27.Januar bis 6. März 2021 zum Beispiel haben wir bei insgesamt 16 dokumentierten Streetworkgängen im Europaviertel und in der Stuttgarter Innenstadt mit 223 Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesprochen, 183 männlichen und 40 weiblichen. Die Gruppengrößen variieren von Einzelpersonen bis zu einem Gespräch mit insgesamt 20 Personen. Wir waren im genannten Zeitraum mit bis zu fünf Mitarbeitenden gleichzeitig „auf der Straße“. Wir begleiten junge Menschen, die einen Großteil ihrer Freizeit im öffentlichen Raum verbringen. Diese haben oft multiple Unterstützungsbedarfe: Schulden, Probleme in der Schule/Schulverweise, Arbeitslosigkeit, keine Ausbildung, Perspektivlosigkeit, Suchtmittelkonsum, Fluchterfahrungen, Beziehungsabbrüche, Diskriminierungserfahrungen, das Gefühl nicht gehört zu werden, geringes Selbstbewusstsein und geringes Selbstwertgefühl, wenig Möglichkeiten Anerkennung zu bekommen u. v. m. Während wir unter der Woche und freitags fast nur Stuttgarterinnen und Stuttgarter antreffen, liegt bei den von uns angesprochenen Heranwachsenden der Anteil an jungen Menschen aus anderen Landkreisen und Städten am Samstag bei ca. 50 Prozent von Schwäbisch Hall bis zum Rand der Alb.
Von welchen Bedürfnissen der jungen Menschen haben Sie bei Ihren Streetworkgängen inzwischen erfahren?
Simon Fregin: Zentral ist der Wunsch nach Anerkennung und Respekt. Und vielen fehlt eine Zukunftsperspektive: Junge Geflüchtete zum Beispiel müssen oft jahrelang auf eine Entscheidung durch das BAMF warten. Unserer Erfahrung nach wollen alle jungen Menschen produktiv, gut ausgebildet und eigenständig sein. Delinquentes Verhalten, abweichendes Verhalten etc. sind in der Regel Reaktionen auf unklare Zukunftsperspektiven oder das Gefühl, „eh nichts erreichen zu können“. Bürokratie, die Abhängigkeit vom Schulabschluss, zugeschriebenes Verhalten und ähnliches können junge Menschen massiv behindern. Dazu ein Zitat aus einer Podcastfolge mit einer jungen Frau: „Wenn dir immer nur gesagt wird: Du bist scheiße, du bist scheiße! Dann bist du irgendwann scheiße“. Insbesondere die Wohnsituation von Familien mit wenig Geld – durch Hartz IV, Zeitarbeit, Mindestlohn etc. – verursacht Probleme. Junge Menschen brauchen eigene (geschützte) Räume. Eine Dreizimmerwohnung, in der fünf Personen wohnen und zwei pubertierende Teenager ein Zimmer teilen müssen, ist kein tragbarer Zustand für eine so reiche Gesellschaft. Diese jungen Menschen verbringen deswegen große Teile ihrer Freizeit im öffentlichen Raum – und dort werden sie negativ wahrgenommen. Doch sie verfügen schlichtweg nicht über andere Möglichkeiten. Es ist uns sehr wichtig, die Bedürfnisse der jungen Menschen zu kennen, und auch, dass diese Gehör finden. In unserem Podcastprojekt www.vox711.de geschieht das ganz explizit, und in unseren Projektberichten, die auch der Gemeinderat liest.
Was erleben Sie an Reaktionen aus der Bevölkerung?
Simon Fregin: Diese können sehr unterschiedlich aussehen: Von Wohlwollen über konkrete Unterstützungsangebote (z. B. hat uns ein Fotograf angesprochen, der auf uns aufmerksam wurde und gerne ehrenamtlich mit jungen Menschen arbeiten möchte), bis hin zu Kritik an unserer Arbeit („Das bringt nichts!“, „anstatt den jungen Menschen Angebote zu machen müsste man ihnen Manieren beibringen“) ist alles dabei.
Was ist eine besondere Herausforderungen in Ihrer Arbeit?
Simon Fregin: Insbesondere nach 20 Uhr (Anmerkung der Redaktion: zum Zeitpunkt des Interviews galt eine coronabedingte Ausgangssperre ab 20 Uhr) merken wir, dass im öffentlichen Raum momentan fast nur einerseits junge Menschen, die feiern wollen, unterwegs sind, und andererseits Polizisten und Polizistinnen, die kontrollieren müssen. Als Erwachsene stehen wir dann unter einer Art Generalverdacht, Polizisten und Polizistinnen zu sein und also zu kontrollieren oder zu sanktionieren.
Haben Sie für die Mobile Jugendarbeit Wünsche an die Kirche?
Simon Fregin: Wir sehen die Kirche und die Kirchengemeinden als wichtige Partner in der Zivilgesellschaft. Die Kirche sollte Anwältin und Sprachrohr für Menschen sein, die im gesellschaftlichen Diskurs häufig nicht gehört werden, deren Bedarfe nicht ernst genommen werden, die „keine Lobby“ haben. Kirche kann auch ein Ort sein, an dem Zugehörigkeit, Heimat, Gemeinschaftsgefühl und Sinn erlebt werden kann. Und sie sollte für ein empathisches Miteinander werben. In Stuttgart sind Kirchengemeinden bereits ebenfalls Träger von Mobiler Jugendarbeit. Eine Kooperation mit unserem Projekt ist angedacht. Dazu könnten Ehrenamt, Räume und Unterstützung bei der Spendenakquise und ähnliches gehören, aber auch eine gemeinsame Mitwirkung in der Stadtteilentwicklung.
Was ist Ihnen persönlich in der Arbeit wichtig?
Simon Fregin: In fast 13 Jahren Mobiler Jugendarbeit habe ich keinen jungen Menschen kennengelernt, der nicht davon geträumt hat „ein gutes Leben zu führen“. Keiner, der oder die nicht ein netter und respektvoller Mensch ist. Häufig sieht man das erst, wenn es gelungen ist eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch „gut“ (im Sinne der allgemeinen Wertvorstellung) sein möchte. Dieses Potential müssen wir als Gesellschaft unterstützen und pflegen! Das ist das Schöne an unserer Arbeit, dass wir genau das dürfen.
Die Fragen stellte Pamela Barke
Quelle: Evangelische Landeskirche Württemberg ( https://www.elk-wue.de/index.php?type=13)
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