15.08.2022 Erste Hilfe am Hauptbahnhof in Stuttgart

Wie die Bahnhofsmission Menschen rund um den Stuttgarter Bahnhof unterstützt

In der Ferienzeit ist am Stuttgarter Bahnhof besonders viel los. Die Bahnhofsmission kümmert sich um alle, die Hilfe benötigen – sei es, weil sie einen unterstützenden Arm beim Umsteigen brauchen oder gestrandet sind. Marie Schächtele hat die Mitarbeitenden begleitet.

Otto Haas, Ehrenamtlicher bei der Bahnhofmission Stuttgart, ist froh, dass es diese Einrichtung gibt.Bild: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Otto Haas verlässt den blauen Container, in dem sich die Bahnhofsmission Stuttgart befindet. Der Ehrenamtliche wirft einen Blick auf einen Zettel, der er in der Hand hält, dann schaut er suchend nach den Gleisnummern. Er soll einer blinden Frau helfen, die Unterstützung beim Umsteigen benötigt und deshalb bei der Bahnhofsmission einen Termin für eine Umsteigehilfe vereinbart hat.

Um 14.32 Uhr soll die Frau auf Gleis 4 mit der S-Bahn aus Kirchheim ankommen. Otto Haas stellt sich an den Anfang des Gleises, damit er sie gleich erkennt. Als die S-Bahn einfährt, schaut er noch einmal auf das Blatt Papier, eine Art Formular, das handschriftlich ausgefüllt ist: „Blindenstock“, „circa 1,65 Meter groß“ steht darauf. In einem Computer-Programm können die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission vor dem Abholen nachschauen, ob sich an der Wagenreihung etwas geändert hat.

Weil Ferien sind und viele Menschen mit dem 9-Euro-Ticket Ausflüge machen, ist am Stuttgarter Hauptbahnhof besonders viel los

An der ersten Tür helfen Reisende einer Frau beim Aussteigen. Otto Haas geht schnell hin und bietet ihr an, dass sie sich bei ihm unterhaken kann. Beide unterhalten sich, während er mit ihr an den Gleisen vorbei durch den hektischen Bahnhof läuft. Weil Ferien sind und viele Menschen mit dem 9-Euro-Ticket Ausflüge machen, ist besonders viel los. Sie biegen in einen ruhigen Gang ein und kommen am Container der Bahnhofsmission an. Hier kann die Frau in einer Sitzecke warten, bis ihr Anschlusszug kommt. Otto Haas bietet ihr etwas zu trinken an.

Ein „offenes Ohr“ für alle

„Wir haben ein offenes Ohr für alles, das die Menschen mitbringen“, sagt Antje Weber, Leiterin der Bahnhofsmission Stuttgart. Auch Reisenden, die Orientierungsprobleme haben, hilft die Einrichtung, außerdem Personen, die sich am Bahnhof aufhalten. „Das können Wohnungslose sein, aber auch Menschen, deren Wohnung zu eng ist oder die einsam sind“, sagt Antje Weber. Viele davon suchen bei der Bahnhofsmission Ansprechpartner – häufig benötigen sie jemanden, der ihnen zuhört.

Antje Weber leitet die Bahnhofsmission Stuttgart. Sie erzählt, wie lange es dauert, Vertrauen zu den Menschen aufzubauen, die sich am Bahnhof aufhalten.Bild: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Die Bahnhofsmission bietet Menschen, die sich viel am Bahnhof aufhalten, an, sich auszuruhen

In der Sitzecke bei der Bahnhofsmission können sich die Menschen eine Weile aufhalten. Dort gibt es Tee und gegen einen kleinen Geldbetrag Kaffee, Snacks, Süßes und Spielsachen für Kinder. Außerdem geben die Mitarbeitenden Decken, Schlafsäcke und Isomatten aus.

Vor der Bahnhofsmission fragt eine Mitarbeiterin eine ältere Frau an, ob sie sich nicht zu ihnen hineinsetzen und ausruhen wolle, doch diese lehnt ab. Die Frau hält sich seit langer Zeit rund um den Bahnhof auf. Die Bahnhofsmission habe ihr geholfen, eine Unterkunft zu finden, erzählt Antje Weber. Und doch dauere es lange, Vertrauen zu den Menschen aufzubauen, die sich häufig am Bahnhof aufhielten.

In einem unscheinbaren Container an Gleis 1 werden Rollstühle aufbewahrt

In einem Container an Gleis 1 hat die Bahnhofsmission für Reisende Rollstühle deponiert. Die Mitarbeitenden bringen ankommende Menschen zum Taxistand oder helfen älteren Personen, deren Gepäckstücke zu tragen. In der Schulzeit helfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedes Wochenende blinden und sehbehinderten Internatsschülern, die nach Hause fahren, sicher durch den Bahnhof zu kommen.

Als vor etwas mehr als einem Jahr die Ahr aus den Ufern getreten ist und Städte und Dörfer in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen überflutete, wirkte sich das auch auf den Stuttgarter Hauptbahnhof aus, weil das Reisenetz bundesweit sei, wie Antje Weber erklärt. „Wir haben einem Ehepaar aus Köln geraten, nach dem Unwetter zuerst noch hier zu bleiben“, erinnert sie sich. Als es im Hauptbahnhof Stuttgart einen Oberleitungsschaden gab, half die Bahnhofsmission einer älteren Frau, die eigentlich ihre Familie treffen sollte und telefonisch nicht erreichbar war.

Die Landessynode hat bei der Sommersynode 2022 eine Verlängerung und Erhöhung des Zuschusses an die Bahnhofsmission von insgesamt 331.000 Euro von 2023 bis 2027 beschlossen.

Ehrenamtliche leisten einen großen Beitrag zur Arbeit der Bahnhofsmission

„Wir gehen auch durch den Bahnhof und schauen, ob jemand Hilfe braucht“, sagt Otto Haas. Er engagiert sich seit drei Jahren als Rentner bei der Bahnhofsmission. „Ich bin froh, dass es so eine Einrichtung gibt“, sagt er. Die Menschen, denen die Bahnhofsmission helfe, seien dankbar darüber. Am Anfang hat er mehrfach hospitiert und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleitet, außerdem haben ihm die Hauptamtlichen viele Abläufe erklärt.

In diesem Container an Gleis 1 hat die Bahnhofsmission für Reisende Rollstühle deponiert. Bild: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Die Arbeit bei der Bahnhofsmission: „Abwechslungsreich“ – und „unvorhersehbar“

Es ist kurz nach drei Uhr nachmittags. Otto Haas hat gerade seine Schicht beendet. Seit 9 Uhr war er im Dienst. Eine hauptamtliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission begleitet die sehbehinderte Frau zu einem ICE in Richtung Hannover. „Man darf keine Scheu haben, Menschen beiseitezuschieben“, sagt sie.

Der reservierte Platz der Frau ist ganz vorne. Sie klappt ihren Blindenstock aus, den sie zusammengeklappt in der Hand gehalten hat, und die Mitarbeiterin reicht ihr den großen Koffer in den Zug. Mit hinein dürfen die Mitarbeitenden aus rechtlichen Gründen nicht.

Ein Mann spricht die Mitarbeiterin auf Englisch an. Er erkennt am leuchtend blauen T-Shirt, dass sie am Bahnhof arbeitet. Am Handy sucht sie für ihn einen Zug heraus. „Die Arbeit ist abwechslungsreich“, erklärt sie. Außerdem lernt man viele Menschen kennen. Doch die Aufgaben der Bahnhofsmission sind auch „unvorhersehbar“, sagt Antje Weber.

Ehrenamtlicher Otto Haas hilft einer blinden Frau, im vollen und hektischen Bahnhof umzusteigen.Bild: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Bahnhofsmissionen – „Seismografen der Gesellschaft“

Bahnhofsmissionen – es gibt sie in vielen Städten – befinden sich mittendrin im Geschehen der Stadt. Sie sind „Seismografen“ der Gesellschaft, erklärt die Leiterin der Bahnhofsmission Stuttgart, Antje Weber. Gesellschaftliche Zustände sind an den Bahnhöfen besonders stark spürbar. Nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine kamen ukrainische Familien zuallererst an den Bahnhöfen an. Und auch 2015 und 2016 half die Bahnhofsmission vielen nach Deutschland geflüchteten Menschen zuerst. Antje Weber rechnet damit, dass im Herbst mehr Menschen ihre Hilfe benötigen werden, weil sie wegen der steigenden Heizkosten von Armut betroffen sind.

Die Bahnhofsmission ist auf Spenden angewiesen. Hier zeigt Leiterin Antje Weber Spenden, die die Bahnhofsmission in dem Container am Stuttgarter Hauptbahnhof aufbewahrt.Bild: Evangelische Landeskirche in Württemberg

Ein geschützter Raum nur für Frauen

Daniela Stumpe, Leiterin der Bahnhofsmission Tübingen, kann bestätigen, dass die Arbeit der Bahnhofsmission anders ist als die anderer Beratungsstellen. „Wir bekommen hier vieles mit, was in anderen sozialen Einrichtungen noch nicht angekommen ist“, bestätigt sie. „Es gibt immer nur Strukturen für Probleme, die schon bekannt sind.“ Die Bahnhofsmission stellt deshalb den Kontakt zu anderen Beratungsstellen her.

„Die Anliegen der Menschen, um die sich die Bahnhofsmission kümmert, sind sehr unterschiedlich, das ist eine Herausforderung“, hat Daniela Stumpe festgestellt. Viele Menschen benötigen am Bahnhof Hilfe. Wem hilft man, wenn man sich entscheiden muss, wem nicht? Wie können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vertrauen zu den Menschen aufbauen?

Die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission Tübingen stellen sich häufig in die Bahnhofshalle, um sichtbar zu sein, weil auch eine Hemmschwelle besteht, zu ihnen zu kommen und um Hilfe zu bitten. Für Gäste, die sich ausruhen wollen, gibt es in der Bahnhofsmission Tübingen nur zwei Plätze. Wen können sie zusammenbringen, wer könnte sich unwohl fühlen?

Einmal im Monat mittwochabends bietet die Tübinger Bahnhofsmission einen geschützten Raum nur für Frauen an und spricht dafür auch Frauen an, die sich zu dem Zeitpunkt am Bahnhof aufhalten.

Leiterin Antje Weber hat für die Stuttgarter Bahnhofsmission einen besonderen Wunsch: einen Raum der Stille am Bahnhof, in dem Menschen zur Ruhe kommen können. Doch das sei am neuen Stuttgarter Hauptbahnhof aus Platzgründen nicht möglich, bedauert sie.


Die Bahnhofsmission

  • Die Bahnhofsmission wird auf evangelischer Seite von der Organisation VEJ und auf katholische Seite von In Via getragen.
  • Die Bahnhofsmission Mobil begleitet Reisende, etwa Kinder getrennter Eltern, im Zug.
  • Alle zwei Wochen gibt die Bahnhofsmission Stuttgart zurzeit gespendetes Essen aus. Außerdem waren sie eine der Ausgabestellen der Stuttgarter Vesperkirche. Auch Brötchen, die die Mitarbeitenden abends bei einer Bäckerei abholen können, verteilen diese manchmal.
  • Ein Mitarbeiter der Bahnhofsmission Stuttgart hat eine Fortbildung der Bahnhofsmission als „Mutmacher“ abgeschlossen: Er ist besonders dazu da, im Gespräch für Menschen am Bahnhof da zu sein.
  • Neun hauptamtliche Personen und rund 50 Ehrenamtliche arbeiten bei der Bahnhofsmission Stuttgart. In Tübingen ist es nur eine Hauptamtliche.
  • Ehrenamtliche werden gesucht, besonders seit Beginn der Corona-Pandemie.
  • Die Bahnhofsmission ist auf Spenden angewiesen: Spendenkonto: Bahnhofsmission Deutschland e. V., IBAN: DE58 5206 0410 0005 0159 95, BIC: GENODEF1EK1