Interview mit Asyl-Pfarrerin Ines Fischer
Der 30. September ist der nationale Tag des Flüchtlings und zugleich Teil der Interkulturellen Woche. Aus diesem Anlass haben wir mit Ines Fischer über die aktuellen Herausforderungen in der Arbeit mit Geflüchteten gesprochen. Sie ist in der Prälatur Reutlingen Pfarrerin für Asyl und Migration.
Frau Fischer, Sie hören permanent unterschiedliche Geschichten von Menschen mit Fluchterfahrung. Welche Schicksale bleiben bei Ihnen hängen?
Ines Fischer: Zum Beispiel die Geschichte von Ella (29). Sie ist vor fünf Jahren aus Nigeria nach Deutschland gekommen. Mit einem priesterlichen Voodoo Ritual eingeschworen wurde sie von skrupellosen Menschenhändlern auf den Weg geschickt, um in Europa als Prostituierte ausgebeutet zu werden. Über die Wüste, ein Folterlager in Libyen und das Mittelmeer gelangte sie nach Italien, wo ihr der Pass abgenommen und sie zum „Anschaffen“ gezwungen wurde. Ihre „Kunden“ waren europäische Männer. Als sie mit ihrem ersten Kind ungewollt schwanger wurde, floh sie und kam auf Umwegen nach Deutschland. Traumatisiert, misshandelt und mit dem Gefühl nie wieder einem Menschen wirklich vertrauen zu können. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Sie hatte es aus Scham nicht gewagt, über die wirklichen Umstände ihres Leidensweges zu berichten. Ihre Tage und Nächte sind geprägt von Flashbacks über das Erlebte und von der Angst vor einer möglichen Abschiebung.
Was bedeutet es für solche Frauen?
Ines Fischer: Ella ist eine von vielen, die in Deutschland als abgelehnte Asylbewerber oder -bewerberin in Unsicherheit und Angst leben. Therapeutische Hilfe wird ihr aufgrund ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation nicht gewährt, ohne diese wird ein „normales“ Leben für sie jedoch nicht mehr möglich sein. Menschen wie Ella landen häufig bei mir im Asylpfarramt.
Was machen Sie mit Frauen wie Ella?
Ines Fischer: Zunächst einmal geht es darum, in einem geschützten Rahmen die jeweiligen Menschen mit den Fragen zu begleiten, mit denen sie kommen. Dafür braucht es eine gute Mischung aus seelsorgerlicher Begleitung mit traumasensiblen Kenntnissen. Darüber hinaus sind aber auch fundierte Kenntnisse aus der Verfahrensberatung im Asyl- und Ausländerrecht notwendig. Denn einen Menschen in seiner Lebenssituation zu begleiten, heißt eben auch immer, seine Situation ernst zu nehmen und zu wissen, wo er oder sie steht bzw. wie die Herausforderungen des Alltages aussehen.
Ganz schön anspruchsvoll!
Ines Fischer: Ja, im Asylpfarramt kommen Menschen aus allen Kontexten an und der Fächer der Seelsorge umfasst hier sowohl die Beratung und Vermittlung von Rechtsberatung, die Vermittlung in eine Traumatherapie sowie die Begleitung im Alltag. Viele Geflüchtete, die in ihrem Heimatland oder auf ihrer Flucht brutal ausgebeutet, gefoltert und gedemütigt worden sind, haben bei uns hier kaum eine Lobby. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Knowhow aus dem Asylpfarramt bei den Behörden und Politikern tatsächlich auch gehört und ernst genommen wird. Ich sehe unsere Aufgabe als Kirche hier darin Fürsprecherin zu sein für diejenigen, die ansonsten keine Stimme haben.
Jetzt ist das Thema Flucht durch den Ukrainekrieg wieder in den Fokus gerückt.
Ines Fischer: Und damit auch ein neues Thema: die Ungleichbehandlung von Geflüchteten. Wie der Staat mit ukrainischen Geflüchteten umgeht, entspricht einem wirklich menschenwürdigen Umgang mit den betroffenen Menschen. Sie bekommen Zugang zur Arbeit und Bildung und werden nicht ausgegrenzt. Wir brauchen diese Integrationsmaßnahmen aber tatsächlich für alle Geflüchteten. Unabhängig davon wie das Asylverfahren letzten Endes ausgehen wird, müssten aus meiner Sicht alle das Recht haben, in der Zeit ihres Lebens in Deutschland an unserer Gesellschaft teilzuhaben.
Dem ist aber nicht so…?
Ines Fischer: Nein, diese Politik der Ausgrenzung begegnet mir derzeit auch bei der Begleitung von Studierenden aus anderen Ländern, die zunächst das Glück hatten, in der Ukraine einen Studienplatz zu bekommen, dann aber nach Deutschland flüchten mussten. Sie haben in ihrer ursprünglichen Heimat oft alles aufgegeben. Manchmal haben sie auf Grund der überstürzten Flucht aus der Ukraine nun nicht einmal Nachweise, dass sie dort studiert haben. Für sie gibt es auch kein „zurück nach Afrika“ – die Finanzen und die Lebensgrundlagen wurden für das Studium aufgebraucht und nun stehen sie mit leeren Händen da. Die Betroffenen sind verzweifelt, zum zweiten Mal entwurzelt und müssen sich nun durch unseren Behördendschungel kämpfen. Ich empfinde dies als unwürdig und setze mich dafür ein, dass diese Menschen wirklich gut beraten und begleitet werden.
Eigentlich ist die Flüchtlingsarbeit doch eine staatliche Aufgabe, warum mischt die Kirche mit?
Ines Fischer: Engagement für geflüchtete Menschen ist ein ganz zentraler biblischer Auftrag. Die Hebräische Bibel und das Neue Testament sind voll von Geschichten, in denen Menschen entwurzelt werden aufgrund von Kriegen und Gewalt und leidvolle Fluchterfahrungen machen. Die Solidarität mit denen, die heimatlos sind und neu anfangen müssen, hat im biblischen Kontext eine große Bedeutung. Eine „flüchtlingsbereite Kirche“ wie der ehemalige Landesbischof Frank Otfried July dies im Jahr 2016 formuliert hat, ist eine Kirche, die ihrem eigentlichen Auftrag gerecht wird und diesen ernst nimmt. Dass die Landeskirche zwei Asylpfarrämter und eine kirchlich-diakonische Flüchtlingsarbeit gemeinsam mit dem Diakonischen Werk ermöglicht, ist für mich ein sichtbares Zeichen dieses Auftrages in der Öffentlichkeit.
Funktioniert die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen?
Ines Fischer: Derzeit erleben wir, dass staatliche Stellen unseres Landes mit der Unterbringung der geflüchteten Menschen und der damit einher gehenden Verwaltung vollständig ausgelastet bzw oft auch überlastet sind. Ich halte es für selbstverständlich, dass wir – die Kirche – als Teil von Zivilgesellschaft von unserem Auftrag her das einbringen, was wir an Kapazitäten und Ressourcen haben. Allem voran der Ukrainekrieg, aber auch die anderen Krisenregionen der Welt einschließlich des Klimawandels, verursachen immer größere Fluchtbewegungen. Gottebenbildlichkeit aller Menschen bedeutet, dass das Schicksal der anderen (das ja auch mit unserem eigenen Lebenswandel zusammenhängt) mit unserem untrennbar verflochten ist.
Was braucht ihr Asylpfarrerinnen und-pfarrer und Asyldiakoninnen und-diakone, um gut arbeiten zu können?
Ines Fischer: Es ist gut zu wissen, dass die kirchlich-diakonische Flüchtlingsarbeit so breit aufgestellt ist und so gute Arbeit leistet. Ich halte darüber hinaus die Arbeit in den Prälaturen für unverzichtbar, weil hier Vernetzung stattfindet, die allen Beteiligten dient. Engagement für und mit geflüchteten Menschen ist – das wissen alle diejenigen, die hier engagiert sind – eine Arbeit, die fundiertes Wissen, langjährige Kenntnis der Strukturen und vor allem Vernetzung braucht. Das Leid der betroffenen Menschen ist wirklich groß. Wir sehen, was es bedeutet, wenn Menschen ihre Heimat verlieren. Und jetzt geschieht es unmittelbar in unserer Nähe. Empathie, Verständnis und Solidarität werden immer wichtiger. Um diese immer wieder zu wecken, brauchen wir die genannten Stellen auch langfristig. Unsere Gesellschaft driftet an vielen Stellen auseinander. Abschottungspolitik, Ausländerfeindlichkeit und radikale Tendenzen nehmen zu. Ich erlebe es, dass Kollegen und Kolleginnen, Ehrenamtliche und andere Fachberatungsstellen dankbar dafür sind, dass es eine kirchlich gut aufgestellte Flüchtlingsarbeit gibt. In der Praxis brauchen wir tatsächlich „Men/womenpower“, allein mit Solidaritätsbezeugungen ist es nicht getan.
Wie kann es gehen?
Ines Fischer: Wir sind in den Prälaturstellen eben nicht nur für die Beratung zuständig, sondern auch für die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Flucht und Migration. Wir kommen in Kirchengemeinden, zum Konfirmandenunterricht oder in die Schulen und berichten über Fluchtursachen, über die Situation an den Außengrenzen Europas. Wir trainieren Ehren- und Hauptamtliche, veranstalten Seminare, in denen wir zum Thema Rassismus sensibilisieren, geben interkulturelle Seminare und ermöglichen Vernetzung. Ebenso halten wir den Kontakt zu politisch Verantwortlichen, um den Geflüchteten ein Gesicht zu geben.
Macht es außer der Kirche niemand?
Ines Fischer: Ich erlebe immer wieder, dass die großen Kirchen zentrale Player bei diesem Thema sind und immer wieder auch Diskussionen in dieser Richtung anstoßen. Wir arbeiten dabei natürlich eng mit Organisationen wie Pro Asyl, dem Flüchtlingsrat oder anderen Nichtregierungsorganisationen zusammen. Unsere eigene Botschaft in dieser Solidargemeinschaft ist aber, dass unser biblisches Zeugnis zu konkretem solidarischem Handeln mit Menschen auf der Flucht einlädt.
Was wird aus Ella?
Ines Fischer: Ella ist nur ein Beispiel.. Es sind viele sehr unterschiedliche Lebensgeschichten, die ich im Laufe der letzten Jahre kennengelernt habe: Menschen aus Afghanistan, die auf den versprochenen Familiennachzug warten. Geflüchtete aus verschiedenen Staaten Afrikas, die aus Ländern kommen, in denen der Kolonialismus gewütet hat mit Folgen bis zum heutigen Tag. Menschen aus Syrien, die ihr gesamtes Leben aufgeben mussten und hier bei uns mühsam und langsam das Leben leise wieder lernen nachdem ihnen alles genommen wurde. Ukrainische Frauen, die um das Schicksal ihrer Angehörigen bangen. Um die Lebenswelten dieser Menschen zu verstehen braucht es Empathie und Verständnis. Wissen und Aufklärung. Und das Erzählen von der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt.
Nun steht im September die Interkulturelle Woche an. Was ist in Ihrem Einzugsbereich geplant?
Ines Fischer: Wir planen eine große Veranstaltung zum Thema Seenotrettung im Mittelmeer in Reutlingen gemeinsam mit zwei Kapitänen, die auf Schiffen im Mittelmeer Rettungsmissionen geleitet haben. Die Zahl der Bootsflüchtlinge hat in den letzten Monaten stark zugenommen. Die Gründe dafür und wie sich private Organisationen dafür einsetzen, dass die Menschen nicht ertrinken, wollen wir transparent machen. Außerdem findet natürlich wie jedes Jahr der Gottesdienst zum „Tag des Flüchtlings“ statt, den wir diesmal unter das Thema „Offen geht leichter“ gestellt haben. Denn es sollte immer so sein, dass wir Flüchtlingsaufnahme und Solidarität als etwas betrachten, was unsere Gesellschaft positiv verändern kann und uns nicht ausschließlich beschwert – sondern wirklich bereichert.
Über Ines Fischer:
Ines Fischer (50) ist seit 2016 Asylpfarrerin in der Prälatur Reutlingen. Zu ihren Aufgaben gehören die Beratung und Begleitung von Geflüchteten sowie die Öffentlichkeitsarbeit des kirchlichen Engagements zu Fragen von Flucht und Migration in der Prälatur. Sie arbeitet zusammen mit der kirchlich-diakonischen Flüchtlingsarbeit, die es in jedem Kirchenbezirk gibt. In der Württembergischen Landeskirche gibt es vier Stellen – in der Prälatur Stuttgart und Reutlingen sind es zwei Pfarrstellen und in der Prälatur Heilbronn und Ulm zwei Diakonatsstellen (eine davon ist im Moment nicht besetzt).
Das Gespräch führte Magdalena Smetana
Quelle: Evangelische Landeskirche Württemberg ( https://www.elk-wue.de/index.php?type=13)
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