Karfreitags-Predigt von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl
In seiner Karfreitags-Predigt in der Stuttgarter Stiftskirche über den Predigttext aus Kol 1,12-20 erinnert Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl an das Bombardement Kiews am 23. November 2022, nach dem 80 Prozent der Stadt in völliger Dunkelheit gelegen hätten: „In der Nacht, die den Angriffen folgte, fiel Kiew in tiefe stromlose Dunkelheit. Augenzeugen berichteten, sie hätten die Stadt noch nie so finster gesehen. „Stockdunkel“ sei es gewesen. […] Dieses Wort klingt bei mir nach. Kinder haben im Dunklen Angst. ‚Lass die Tür noch einen Spalt weit auf‘, sagen sie. […] Das klingt nach mehr als einer Dunkelheit, die beim Sonnenaufgang verschwindet. Diese Dunkelheit ist mehr. Sie ist Finsternis. Diese Finsternis macht Angst. Diese Finsternis hat Macht über uns. Sie isoliert uns, sie macht einsam.“
Sie finden den Volltext der Predigt weiter unten auf dieser Seite.
Karfreitag sei der Tag dieser Finsternis, so Gohl, „der Tag des schwarzen Todes. Als Jesus stirbt, so berichtet es das Matthäusevangelium, sei eine Sonnenfinsternis eingetreten. Die Finsternis ist der Ort des Todes.“ Dieser Macht des Todes könne niemand entkommen, sie mache Angst. Und diese Angst gehöre zu Karfreitag dazu.
Aber, so Gohl, „wenn das alles wäre, dann wären wir heute nicht hier. Das Christentum ist kein Todeskult. Vielmehr haben wir auch an Karfreitag die begründete Hoffnung, dass Jesu Tod die Welt verändert hat.“
Der Predigttext aus dem Kolosserbrief sei zugleich ein Freudenlied und ein Karfreitagslied. Er enthalte eine Behauptung, die wirke, „wie bei einem Kind im dunklen Zimmer, das furchtbar Angst hat, und die Mutter dreht den Lichtschalter herum, und plötzlich ist das ganze Zimmer hell erleuchtet. Dieser Lichtschalter-Satz lautet: Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis. Keine epochale Dunkelheit mehr, keine Angst in der Nacht. Jesus hatte bei seiner Verhaftung gesagt: Dies ist die Macht der Finsternis. Diese Macht ist jetzt gebrochen. Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis. Wie in einem Reich der Dunkelheit lebten wir Menschen. Jetzt leben wir in einem neuen Reich. Im Reich des Sohnes.“
Der Karfreitag stelle die Frage, die auch der Glaube stelle: „Wo ist Gott? Die Frage ist drängend, weil wir das viele Leid manchmal kaum mehr aushalten können.“ Der Predigttext gebe die Antwort: „Dieser Gott ist der, der sein Blut für uns lässt und sein Leben. Der unser Scheitern zu seiner Sache macht und ganz klein und kümmerlich am Kreuz endet. Wo ist dieser Gott? Er ist bei uns.“
Predigt von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl zur Karfreitag 2023 in der Stuttgarter Stiftskirche
Liebe Gemeinde,
im Laufe des 23. November 2022 schoss das russische Militär mehr als 70 Raketen und Drohnen auf die Ukraine ab. Die Geschosse töteten nicht nur Menschen, sondern richteten schwere Schäden am Stromnetz der Ukraine an. In der Hauptstadt Kiew waren 80 Prozent der Haushalte ohne Strom und Wasser. Augenzeugen berichteten, sie hätten die Stadt noch nie so finster gesehen.
Nachrichten wie diese lesen wir Tag für Tag. Im nüchternen Stil der Berichterstattung wird ein großes Unglück geschildert. Raketen, von einem Angreifer und seiner Armee abgefeuert, zerstören das Leben von Menschen.
Dass dabei auch bewusst Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke zerstört werden, ist nichts Neues. Gezielt soll der Alltag der Zivilbevölkerung unmöglich gemacht werden. In der Nacht, die den Angriffen folgte, fiel die Hauptstadt Kiew in tiefe stromlose Dunkelheit. Augenzeugen berichteten, sie hätten die Stadt noch nie so finster gesehen.
„Stockdunkel“ sei es gewesen. Dieses Wort klingt bei mir nach. Kinder haben im Dunklen Angst. „Lass die Tür noch einen Spalt weit auf“, sagen sie. Nacht ist in unseren Städten ja nie wirklich dunkel. Überall gibt es auch in der Nacht noch Licht. Manche reden sogar vom Lichtsmog.
Noch nie sei die Hauptstadt Kiew so finster gewesen. Das klingt nach mehr als einer Dunkelheit, die beim Sonnenaufgang verschwindet. Diese Dunkelheit ist mehr. Sie ist Finsternis. Diese Finsternis macht Angst. Diese Finsternis hat Macht über uns. Sie isoliert uns, sie macht einsam.
Heute, an Karfreitag, kommt uns die Finsternis näher als sonst. Karfreitag ist der Tag des schwarzen Todes. Als Jesus stirbt, so berichtet es das Matthäusevangelium, sei eine Sonnenfinsternis eingetreten. Die Finsternis ist der Ort des Todes. Jeder Mensch braucht Licht zum Leben, jede Pflanze braucht Licht zum Wachsen.
Als Jesus im Garten Gethsemane verhaftet wird, sagt er mit Blick auf den Verrat, der ihn ans Kreuz bringen wird: Dies ist die Macht der Finsternis!
Karfreitag ist ein Tag des Dunkels und der Finsternis. Kein Licht, nirgends. Schwer auszuhalten. Kaum zu glauben. Jesus von Nazareth ist tot. Gestorben am Kreuz. Und die Welt ist finster. Die Lyrikerin Marie-Luise Kaschnitz hat diese Erfahrung mit der Macht des Todes so beschrieben:
Mit dem Tod muss ich umgehn
Dem schwarzen Hengst,
Der sprengt mit der Schulter
Die sicheren Wände,
Der zerstampft mit dem Huf
Die geglätteten Dielen.
Sein Drahthaar zerriss meinen Vorhang,
Sein Eisatem blies mir die Scheiben blind,
Meine Gebete durchschoss er mit Verwünschung,
Aus meiner Sanftmut schlug er roten Zorn.
Dieser Macht des Todes kann niemand entkommen. Seine Wucht, seine Größe machen uns Angst. Diese Angst gehört zu Karfreitag dazu.
Liebe Gemeinde, wenn das alles wäre, dann wären wir heute nicht hier. Das Christentum ist kein Todeskult. Vielmehr haben wir auch an Karfreitag die begründete Hoffnung, dass Jesu Tod die Welt verändert hat. Ich lese uns den Predigttext für diesen heutigen Karfreitag ist aus Kol 1,12-20:
Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis
und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes,
in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten;
es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.
Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.
Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allem der Erste sei. Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen
und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,
es sei auf Erden oder im Himmel,
indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.
Dieser Abschnitt aus dem Kolosserbrief ist ein altes Freudenlied. Heute, an Karfreitag, singen wir im Gottesdienst Lieder, die vom Sterben und Tod Jesu sprechen. Dieses Lied ist ganz anders. Man singt es nicht mit einem Klos im Hals. Die Dornenkrone sucht man vergeblich. Kein Kreuz, keine johlende Menge, keine Soldaten, keine Hohenpriester, kein Statthalter Roms. Nur ganz am Ende des alten Hymnus, eine Spur, eine Blutspur. Gott machte Frieden durch Christi Blut am Kreuz.
Dieser alte Hymnus aus dem Kolosserbrief ist aber ganz und gar ein Karfreitagslied. Aber sein Blick ist anders. Mit einer Hand berührt er das Kreuz, mit der anderen greift er in den Himmel, der Sohn Gottes.
Das alte Karfreitagslied beginnt mit einer ungeheuren Behauptung. Wenn man sie hört, gleicht sie einem Kind im dunklen Zimmer, das furchtbar Angst hat und die Mutter den Lichtschalter herumdreht und plötzlich das ganze Zimmer hell erleuchtet wird. Dieser Lichtschalter-Satz lautet: Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis. Keine epochale Dunkelheit mehr, keine Angst in der Nacht. Jesus hatte bei seiner Verhaftung gesagt: Dies ist die Macht der Finsternis. Diese Macht ist jetzt gebrochen. Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis. Wie in einem Reich der Dunkelheit lebten wir Menschen. Jetzt leben wir in einem neuen Reich. Im Reich des Sohnes.
Ich stelle mir vor, wie die ersten christlichen Gemeinden, die wegen ihres Glaubens verfolgt und mit dem Tod bedroht wurden, diese Worte aus dem Kolosserbrief gehört haben. Was hat sie in ihrer Todesangst umgestimmt? Woran machte sich ihre Zuversicht fest?
Als ich ein kleiner Junge war, haben wir auf dem Weg nach Süditalien in Rom Station gemacht. Wer in Rom ist, besucht auch die Katakomben. So auch wir. In Kilometer langen Gängen wurden dort in der Antike Gräber in den Fels geschlagen und die ersten Christen bestattet. Kein Tageslicht gelangte in das Dunkel der Katakomben. Kleine Leuchten gaben etwas Licht. Je länger, je mehr machte mir diese Dunkelheit Angst. Ich sah nur noch diese dunklen Gräber. Mein Vater bemerkte meine Angst und sagte: „Schau mal dieses Bild“.
Ich schaute hin und sah das uralte Motiv, das der Maler vor fast 2000 Jahren auf dem Stuck angebracht hatte und das ich aus dem Kindergottesdienst kannte: Ein Mann mit einem Schaf auf der Schulter. Christus der gute Hirte, der auf die Herde seiner Schafe aufpasst und sie beschützt. Und plötzlich war meine Angst wie weggeflogen. Obwohl sich an den äußeren Rahmenbedingungen nichts geändert hatte. Es war noch immer dunkel. Aber dieses Bild zeigte mir eine andere Wirklichkeit.
Freilich, der Kolosserhymnus spricht mit anderen Bildern von Christus. Aber im Kern geht es genau darum: Um Schutz. Schutz vor den Mächten und Gewalten. Schutz vor den Thronen der irdischen Herrscher. Schutz vor allem Sichtbaren und Unsichtbaren.
„Mitten wir im Leben sind / von dem Tod umfangen“. Das sind die Worte eines alten Kirchenliedes. Der Tod lauert überall: In der Dunkelheit nach einem Raketenangriff, in einem Erdbeben, in den alten Gräbern von Rom, mitten im Alltag. Diesen Tod wird es weiterhin geben. Aber seine Macht, von der Marie-Luise Kaschnitz redet, sie ist gebrochen. Wir stehen unter dem Schutz Gottes – selbst im Sterben.
Der Hymnus des Kolosserbriefs geht sogar noch weiter. Er beschreibt die Macht des gekreuzigten Christus als universal. Er ist Gott. Nicht wie Gott. Nein, er, der Schmerzensmann, der Mann am Kreuz, ist Gott. Seine Herrschaft gilt dem ganzen Universum.
Ihr tieferer Sinn entfaltete sich, wenn wir an die Hauptfrage von Karfreitag denken. Dieser Tag stellt eine Frage. Unser Glaube stellt sie und will eine Antwort. Die Frage lautet: Wo ist Gott? Die Frage ist drängend, weil wir das viele Leid manchmal kaum mehr aushalten können. Wo ist Gott?
Der alte Hymnus singt in leuchtenden Farben von Gott, der alles ist und alles kann: Sogar die Finsternis besiegen. Aber ein solcher ferne Gott hätte mich als Kind in den Katakomben von Rom nicht berührt. Dieser Gott ist der, der sein Blut für uns lässt und sein Leben. Der unser Scheitern zu seiner Sache macht und ganz klein und kümmerlich am Kreuz endet. Wo ist dieser Gott. ER ist bei uns.
Dieser Gott leidet mit mir im Leben und im Sterben.
Dieser Gott leidet mit uns als Kirche in allen Anfechtungen.
Dieser Gott leidet mit allen Menschen in Dunkelheit und Finsternis.
Dieser Gott leidet mit allen seinen Geschöpfen, den Tieren, den Pflanzen.
Dieser Gott leidet mit seiner ganzen Schöpfung.
Heute ist Karfreitag. Die Macht des Todes ist all überall. Aber Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis. Amen.
Quelle: Evangelische Landeskirche Württemberg ( https://www.elk-wue.de/index.php?type=13)
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