27.06.2023 Online-Beratung: „Es war ein Experiment“

Psychologin Dr. Esther Stroe-Kunold über ein psychologisches Online-Gruppenangebot für Ukrainerinnen

Dr. Esther Stroe-Kunold, stellvertretende Leiterin der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen in der Landeskirche, hat mit ukrainischen Psychologinnen ein Beratungsangebot ins Leben gerufen. Wie ist die Idee entstanden? Darüber spricht sie im Interview.

Dr. Esther Stroe-Kunold ist stellvertretende Leiterin und Fachreferentin der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.Bild: Dr. Esther Stroe-Kunold

Wie kamen Sie auf die Idee, eine psychologische Online-Beratung für ukrainische Frauen ins Leben zu rufen?

Dr. Esther Stroe-Kunold: Als Russland die Ukraine angegriffen hat, hat mich die Frage stark beschäftigt, was wir, die Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, tun können. Wie können wir dafür sorgen, dass psychologische Angebote Ukrainerinnen in Deutschland erreichen, die sich in einer fremden Umgebung aufhalten und nicht wissen, wo eine Person ist, die ihre Sprache spricht? Die Schwelle, in dieser Situation psychologische Unterstützung aufzusuchen, ist hoch.

Doch dann ist durch Zufall der Kontakt zu einer ukrainischen Psychologin entstanden, die Kontakt zu einer Beratungsstelle aufgenommen hat. Sie hat noch Kontakt zu drei anderen Psychologinnen gehabt und wir haben uns mit einer Dolmetscherin zusammengeschaltet. Wir haben uns überlegt, ein Online-Gruppenangebot für ukrainische Geflüchtete anzubieten.

Es sollte digital stattfinden, um das Angebot nicht regional zu binden. Der Bedarf an psychologischer Unterstützung ist groß. Und auf diese Weise sollten die Frauen – viele von ihnen haben lange in Unterkünften gelebt – auch nicht noch einmal das Vertraute verlassen müssen und sich in einen neuen Kontext begeben. Es war ein Experiment. Ich habe so etwas vorher noch nie gemacht, habe aber sehr schnell gemerkt, dass die Psychologinnen hochqualifiziert sind und dass wir fachlich eine ähnliche Sprache sprechen.

„Wie können wir dafür sorgen, dass psychologische Angebote Ukrainerinnen in Deutschland erreichen, die sich in einer fremden Umgebung aufhalten und nicht wissen, wo eine Person ist, die ihre Sprache spricht?“

Psychologin Dr. Esther Stroe-Kunold

Wie haben Sie das Projekt begleitet?

Stroe-Kunold: Ich habe die vier Psychologinnen gebeten, ein Konzept zu erarbeiten. Dann haben wir es breit beworben, zum Beispiel über die Migrationsbeauftragten der Städte. Wichtig war mir, dass die Leiterinnen mit den Frauen, die sich anmelden, ein telefonisches Vorgespräch führen: Worum geht es? Und wie stark ist die Belastung? Wenn Frauen zu belastet wären, wäre es unsere Aufgabe, sie in eine Einzelberatung zu begleiten, weil eine Gruppe dann zu überfordernd sein kann.

Die Psychologinnen haben mir von allen Sitzungen anonymisierte Protokolle geschrieben, damit ich wusste, um welche Themen es in den Beratungssitzungen geht. Und sie konnten sich jederzeit bei mir melden, wenn sie das Gefühl hatten, dass eine Situation schwierig war oder sie bei einer Frau nicht wussten, ob sie nicht noch eine andere Art der Hilfe benötigt.

Ich habe mir auch viele Gedanken darüber gemacht, ob ich den ukrainischen Psychologinnen überhaupt zumuten kann, die Frauen zu begleiten. Mithilfe einer Dolmetscherin habe ich dann regelmäßig eine Online-Supervision für sie angeboten. Dort habe ich immer wieder nachgefragt, wie gut sie sich selbst abgrenzen können und wie es ihnen geht. Und sie haben sich auch selbst psychologische Beratung geholt. So konnten sie in den Gruppen als professionelle Leiterinnen für die Teilnehmerinnen da sein.

„Ich habe mir auch viele Gedanken darüber gemacht, ob ich den ukrainischen Psychologinnen überhaupt zumuten kann, die Frauen zu begleiten.“

Psychologin Dr. Esther Stroe-Kunold

Sie haben auch wissenschaftlich untersucht, wie belastet die ukrainischen Frauen sind. Was haben Sie festgestellt?

Stroe-Kunold: Bei den Geflüchteten, vor allem Frauen und Mütter, war die Traumatisierung sehr groß. Viele Frauen hatten große Angst und eine ausgeprägte Depression. Im Schweregrad war die Belastung massiv und viel höher als die Durchschnittsbelastung sonstiger Ratsuchender in den Psychologischen Beratungsstellen.

Aber wir waren alle sprachlos, als wir die Bögen nach dem Gruppenprozess von acht Sitzungen ausgewertet und verglichen haben. Herauskam, dass sich die Belastung signifikant reduziert hat. Gleichzeitig hat das Vertrauen zugenommen und eine Genesungszuversicht, also der Glaube, dass es wieder besser werden kann, hat sich deutlich erhöht. So starke Wirksamkeiten gibt es selten. Auch der Schweregrad hat abgenommen. Die Frauen sind zwar noch belastet, aber nicht mehr so sehr. Das ist ein guter Prädiktor für das weitere Ankommen in Deutschland und das weitere Bewältigen ihrer Situation.

Und mich hat überrascht, dass ein digitales Gruppenangebot so wirksam ist. Das macht mich zuversichtlich, weil wir dann mehr Menschen auf einmal erreichen und begleiten können. Aber bei einem solchen Angebot muss auch immer die Möglichkeit enthalten sein, dass eine Einzelbegleitung möglich ist, wenn sie bei einer Person notwendig ist.

„Bei den Geflüchteten, vor allem Frauen und Mütter, war die Traumatisierung sehr groß.“

Psychologin Dr. Esther Stroe-Kunold

Inwiefern gibt es eine psychologische Versorgung für ukrainische Geflüchtete in Deutschland? Was benötigt es noch?

Stroe-Kunold: Am Anfang gab es nicht viele Angebote für geflüchtete Menschen aus der Ukraine, inzwischen sind es mehr. Was mich gerade sehr umtreibt, ist die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, weil die Frauen uns erzählt haben, dass ihre Kinder stark betroffen sind.

Dafür braucht es die Zusammenarbeit mit Schulen und schulpsychologischen Diensten. Und wir sind gerade am Überlegen, ob wir eine Online-Gruppe für geflüchtete Kinder und Jugendliche auflegen, damit auch sie Unterstützung erhalten, einen Ort haben, um in ihrer Peergroup über ihre schwierigen Erfahrungen sprechen können und entlastet werden. Aber wir müssen noch einen Weg finden, um das Angebot zu finanzieren.

Und auch das Online-Angebot geht weiter. Wir sind gerade dabei, zu überlegen, wie. Allgemein ist es wichtig, dass wir solche Möglichkeiten öffentlich und gut erreichbar machen. Digitale Angebote sind deshalb vorteilhaft, weil man, wenn man keine muttersprachlichen Fachkräfte hat, zum Beispiel einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin hinzuzuschalten kann.


Zur Person

Dr. Esther Stroe-Kunold ist stellvertretende Leiterin und Fachreferentin der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.