Koch meint…
Als Buchstabe ist das X das Gegenteil von Kult, nämlich – surf nach bei Wikipedia! – „mit einer durchschnittlichen Häufigkeit von 0,03 Prozent der zweitseltenste Buchstabe in deutschen Texten“. Ganz anders dagegen das X in Tübingen: einmal drin und schon verliebt – eine lebenslange Beziehung ohne Trennungsgefahr. Aber nur, wenn man nicht etepetete ist! Weil das McDonald’s auf Schwäbisch alles verdient, nur keinen Stern. Aber das X leuchtet, nein, es strahlt auch so. Obwohl es nach wie vor ziemlich dunkel ist und trotz kürzlicher Renovierung – die Toiletten hat man wohl vergessen – den morbiden Charme des Prekariären besitzt.
1971 hat das X in der Kornhausstraße aufgemacht, 1973 war ich zum ersten Mal Gast. Seither immer wieder. Als Theologiestudent vielfach zu mitternächtlicher Stunde. Als frisch gebackener Pfarrer und Familienvater beim Besuch der Alma Mater zum Mittagessen. Dieser Tage mit dem inzwischen erwachsenen Sohn auf einem Nostalgietrip in längst vergangene Zeiten.
„Hat’s Ihnen geschmeckt?“ Erst später, nach meiner Antwort, hat sich die Bedienung als Frau Holzinger geoutet. Als die Witwe vom legendären X-Besitzer Walter Holzinger, ohne den der Imbiss über nahezu vier Jahrzehnte undenkbar gewesen ist. Zumal für einen VfB Stuttgart-Fan wie mich, der wir Brüder im Sportsgeiste waren. „Er ist mir vor fünf Jahren weggestorben“, hat Frau Holzinger gesagt. Nachdem ich geantwortet hatte: „Es hat so gut geschmeckt wie vor zehn, zwanzig, dreißig und vierzig Jahren.“ Und dann mit der Frage herausgerückt bin: „Was macht eigentlich der Wirt von früher?“
Wobei meine Antwort ehrlich war: Das Essen war gut und reichlich, und Gott sei Dank hatte ich nicht den XXL-Burger, sondern eine Nummer kleiner genommen. Mit Pommes versteht sich. Und Cola. Weil fürs Schwabenbräu war’s zu früh am Tag. Früher – 1973 liegt ja wirklich schon eine Weile zurück – hab ich eher auf Fleischküchle gestanden. Auch mit Pommes natürlich. Und vor VfB-Spielen mit zwei Bier. Sogar Antonia, meine erste Tochter, ist damit auf die Welt gekommen. Weil ich mich im Kreißsaal trotz Geburtsvorbereitungskurs saudumm angestellt und von meiner Frau die rote Karte bekommen hatte. Fluchtpunkt X!
Frau Holzinger ist übrigens traurig gewesen. „Sieben Tage in der Woche, das macht niemand mehr mit! Wir finden keinen Nachwuchs.“ Und: „Die Konkurrenz wächst und wächst. Metzgereien und so. Es lohnt sich immer weniger. Mein Mann hätte schon längst geschlossen.“ Das Ganze klang wie ein Abgesang. Auch wir sind traurig geworden.
Jetzt aber bin ich trotzig und sage: Nein, das X, es darf nicht sterben! Weil das X kultig ist. Weil es zu meiner und vieler anderer Leute Biographie dazugehört. Und weil es nirgendwo – nirgendwo! – zum Hamburger auch nach vier Jahrzehnten immer noch schwäbische Wecken gibt. Und also lautet die Parole: Kommilitonen von einst, vereinigt euch und pilgert zum X! Studis von heute, lasst euch das X nicht entgehen! Und ihr, die ihr sonst auf ein, zwei, drei Sterne schwört: Abwechslung tut gut, und das X ist allemal einen Abstecher in die Niederungen wert! Weil da das wahre Leben ist.
Übrigens ist, was im Internet über das X aktuell zu lesen steht, entweder falsch, borniert oder beides zusammen. Glaubt’s einfach nicht! Geht lieber rein! Am Tisch ganz hinten rechts sitzt eine Frau. Sie hat ihn ganz für sich allein reserviert. Weil sie mehr als nur 0,03 Prozent des Jahres hier sein will. Eine Art weibliches Pendant des Münchners im Himmel. Nur dass man im Tübinger X nicht vergeblich auf göttliche Eingebungen warten muss. Darauf gibt’s mein ehrliches Wort.
Das meint Koch. Und was meinen Sie?