Gedichte 1994 – 1995
In trutina mentis dubia
fluctuant contraria
laszivus amor
et pudicitiaSed eligo quod video
collum iugo praebeo
ad iugum tamen
suave suave transeo
Carmina Burana
ÜBERGANG
2. Juni 1994
brunnen
brunnen der frühe
der tiefe
der nacht
trinke
trinke aus
den quell
den guten
nie versiege
die lust
der ton
das wort
frage nie
nach dem
was ging
es bleibt
STUTTGART
6. Juni 1994
im zwielicht dieses morgens
klärt sich der blick
hin auf die betonwände
dieser stadt
viele kleine blechdosen
sondern atemfremde
penetranz
in den längstvergangenen
himmel
WEICHEN
6. Juni 1994
wer ging vorüber
dieses pflaster
wer hielt
die blume
des gestern noch
in der hand
lenke nicht zurück
mehr meinen fuß
bewirte mich
mit früchten
des kommenden tags
gib abschied
jenen spuren
brich auf
tritt ein
RUF DER TRÄUMEKÜNDER (NACH JER 23,9-40)
7. Juni 1994
unsere worte wollen nichts verändern
denn die welt und ihr kreis
hat veränderung genug
sprechen die propheten
wir wollen gehen auf glatten wegen
denn steine gibts zuhauf
im leben der menschen
warum zu nahe treten
unsern frommen
warum das leid der massen
noch verstärken
mit böser botschaft
schwerer kunde
unheilsruf
unser trost strömt aus
auf alle bewohner des südlands:
nichts wird euch schrecken
nichts euer lager stören
nichts verwirren euch
die ihr IHM vertraut
ach ihr träumekünder!
verschweigt uns nicht
den schweigenden gott
entfernt uns nicht
den fernen gott
laßt nie verstummen
den stummen gott
ERNTESOMMER
2. August 1994
für S.G.
sag: ‚ich‘ !
sag: ‚du‘ !
schau nicht zurück
ergreif die neue zeit
die dir nun gilt
zu heilen was verletzt
neu aufbaun was zerstört
zu suchen was verloren
verbinden was zerissen
sag: ‚ich‘ !
sag: ‚du‘ !
zu deiner zeit
im hier und jetzt
da schweigen endet
du bist gefragt
du bist gewollt
du wirst geliebt
KOINONIA
4. August 1994
für Conni, Albrecht, Mathias und Volker
wie vertraut ihr wieder scheint
ihr stimmen, körper und gedanken
so lange fort
doch nie weit weg
am lebensbaum gehangen
ihr wuchst wie zweige
stark am stamm
gemeinsam in das licht
zusammen nach dem himmel
niemals allein
erlernen wir das hören
GESTERN GING
8. August 1994
für S.G.
gestern ging
und du bliebst da
erkunden wir was war
du gibst den schlüssel gern
mir für mein haus
empfängst den deinen ruhig
und wartest noch
schließ auf
tritt ein
nimm platz
laß uns gemeinsam feiern
die frucht
das brot
den wein
laß uns gemeinsam feiern
niemehr allein
ADORNO 90
10. November 1994
für U.H.
wie bekannt sind mir
die entzauberten worte
und o wie schwer
leidet die seele darum
wenn die stille kommt
schmerzt der mund
vom wohllaut
des stummen tons
doch denke daran
daß oft im wort
sich leben, sterben, angst, gefühl
für immer verirrt
daß worte nie nur hülle
oder schleier der verhüllung sind
doch oft der weg, das tor
– das blutende ich
sei barmherzig, DU!
wenn du die stille suchst
die nicht hinter
sondern in den worten liegt
ADORNO 91
10. November 1994
für U.H.
es schleicht sich
bitterzart
in diesen tagen
ein halten ein
ein nichtmehrgehn
im schritt im hasten
hör ich den ton
der mir von dir
ganz unbekannt her fließt
er tönt von andern dingen
die kraft und leben eignen
aus wenig offnen quellen
da fließt dein bild
sich selbst zu sein
dem harten marsch
sich zu verweigern
der leise ton
klingt mächtig
in den tag
NICHT MEHR ZUHAUS
27. November 1994
für R.Z.
wir haben abgelegt
die kernlose frucht
wir haben abgelegt
die leblose hülle
wir haben abgelegt
was hindert
auf dem weg
wir möchten essen
vom brot des lebens
am tisch des alltags
teilen mit andern
die früchte der hoffnung
anlegen die ehrliche haut
der einheit von kopf und herz
wir bitten den einen
der füllen kann den teller unserer sehnsucht
das warten unseres herzens
den vater
den sohn
den geist
er gebe
lied
gebet
gebärde
zu unserer zeit
nach seinem willen
LEICHTER FLUG
27. November 1994
für R.Z.
warte!
laß reifen!
das tief verborgene
das heute nur mögliche
das zwischen uns lebt
warte!
und sieh!
der flügel
dieser sehnsucht
streift unmerklich
deine hand
ABSCHIEDSWEG
1. Dezember 1994
für R.Z.
zu lange gefangen
in platons höhle
dein lachen als schatten
an der wand
zu lange gefangen
in den bildern der sehnsucht
das sehnen wurde sucht
zu lange gaben die schatten
dem DU das gesicht
wenn in der kraft des augenblicks
ich aufsteigen lerne
aus der gebundenheit der dichten gedränge
dann sei da
erfülle das licht des tages
mit deinem bild
AM MORGEN
1. Dezember 1994
für A.M.
andern hab ich manchen vers geschrieben
dir nur hier und da ein kleines wort
zeugt das nicht von kleinrer kraft im lieben
ging icb nicht als fremder von dir fort
einsam dort
die leeren straßen klingen
den pfad
den weg wir niemals gingen
einsam dort
das wort der ton verhallt
die schuld
die trauer fäuste ballt
als vogelfänger
täubchen fingen
der tau der frühe
nährt den schmerz
der rose
die man bricht
ADVENT
3. Dezember 1994
daß hell werd‘
wo kein lichtlein brennt
der fremde unsre namen kennt
daß wir’s erwarten können
daß komme
der da kommen soll
verborgen, ruhig, hoffnungsvoll
wir ihn beim namen nennen
der über all die namen ist
die tag für tag
man nur vergißt
sein licht soll in dir brennen
ASCHENVOLK
5. Dezember 1994
wie rufen die steine der toten
am dunklen hag
am welken tor
die schatten über’m schtetl
wachsen weit
in den gottvergessenen himmel
seit eure asche flog im wind
weint manche erde
in den nächten ohne grund
ist dies treiben jener gassen
schal und taub
wenn ohne antwort bleibt
baruch haba‘
b’schem adonai
wer wird reichen
roten becher
wer zündet an
heilige leuchter
inmitten dunkler herzen
reifen aschfahl
todesfrüchte
SEIT DAMALS
13. Januar 1995
seit damals fliegen tauben in der nacht
es spricht der stumme, der traurige lacht
seit damals blühen täglich neue träume.
seit damals hat das namenlose ein gesicht
ein gaukler singt, im alten mann stirbt die erinn’rung nicht
was ruft der wind in unsre lebensbäume?
seit damals öffnet wieder sich der mund
der lange schwieg, vom kusse wund
und wir betreten staunend neue räume.
MORGENAPPELL 1945
27. Januar 1995
zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
(nach Jesaja 51,9-16)
Schläfst noch, Tröster Israels,
daß dieser Ruf dich erst erwecke?
Bist müd‘ geworden, unser Fels,
willst, daß jeder hier verrecke?
Warst du es nicht, der Ordnung schuf
im Meer des Chaos, undurchdringlich,
der Welten nahm und bildete
dies Volkes Kinder, unerschwinglich?
Du Schöpfer dieser Welten hast
auch uns zu deinem Bild erschaffen.
Sind wir geworden dir zur Last,
daß du uns tilgst mit fremden Waffen?
Vergessen haben wir dich nicht,
immerzu dein Lob auf unsern Lippen.
Doch du gabst Dunkelheit statt Licht,
schicktest uns fort zu Todesklippen.
Die Sterblichen, sie fürchten wir,
denn Schmerz und Leid sind groß auch hier
kein Mensch kann das vergessen.
Drum nenne keiner Angst vermessen!
Nun mach uns frei, die krummgekettet,
schenk Leben uns und Brot die Fülle!
Mach satt uns durch dein Wort,
mit deinem Licht die Nacht umhülle!
FRÜHLINGSBILDER
3. April 1995
für I.M.
du zeigst mir bilder
deines lebens
hohe farben
bunter tage
leichtfüßig eilst du zurück
und lebst aus ihnen
wie eine frucht
die langsam reift
und zu glühen beginnt
doch denke daran
nach all den bildern
die geblieben sind
leuchtet eines heller
mir am weg
wie der süße duft
des himmels nach dem sturm
bleibt es
und verwelkt nicht mehr