Johannes 10,11-16

Christus spricht: 11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

Liebe Gemeinde!

Wodurch wird aus einem Gebäude eine Kirche? Was kennzeichnet einen Raum als Versammlungsort einer christlichen Gemeinde?

Es sind die Kreuze – mit oder ohne den Korpus Christi-, die wir als ,,Markenzeichen“ des Christentums empfinden.

Ohne bildliche oder plastische Darstellungen des Kreuzes, das durch den Tod und die Auferstehung Jesu zum Zeichen der Erlösung wurde, sind christliche Versammlungsorte und Begräbnisstätten kaum vorstellbar.

Und doch spielte das Kreuz-Symbol in den ersten Jahrhunderten der Christenheit kaum eine Rolle! Es ist auffällig, daß sich zum Beispiel in den Katakomben, den unterirdischen Begräbnisstätten der Christen in Rom, keine Darstellungen des Gekreuzigten finden. Stattdessen stößt der Besucher der Grabanlagen neben dem Erkennungszeichen der frühen Christen, dem Fisch, auch auf Bilder und Figuren des ,,Guten Hirten“.

Der Christus in den Darstellungen der Katakomben ist der Gute Hirte: eine jugendliche, bartlose Gestalt im griechischen Gewand, barfüßig, einen Beutel an der Seite, der über seinen Schultern ein Lamm trägt. Vorder- und Hinterläufe des Tieres hält er mit seinen Händen zusammen; so hat er es fest im Griff und kann es sicher in den Pferch zurückbringen.

Das Zeichen des Fisches begegnet und heute oft: als Erkennungszeichen von Christen, z.B. auf vielen Autos ist es zu sehen. So bekennen sich viele Autofahrer zu ihrem Christsein. Doch das Symbol des Guten Hirten sieht man selten oder gar nicht.

Weshalb ist das so? Warum können wir mit dem Bild des Guten Hirten heute so wenig anfangen? Liegt es daran, daß das biblische Bild vom Hirten in den letzten Jahrhunderten überlagert wurde durch die romantische Vorstellung einer ans Kitschige grenzenden Schäfer-Idylle? Oder spielt die Tatsache eine Rolle, daß wir uns als emanzipierte Menschen zunehmend mehr gegen den Vergleich mit Herdentieren wehren?

Beides scheint mir der Fall zu sein. Weil die Hirten unserer Zeit als Verkörperung von Mut und Wehrhaftigkeit nicht mehr taugen, sondern allenfalls mit Ruhe und Beschaulichkeit in Verbindung zu bringen sind, können wir die biblische Bedeutung des Hirten kaum noch verstehen. Und weil die Übertragung des Bildes von Hirt und Herde auf menschliche Verhältnisse uns selbst in die Rolle von Schafen zwingt, wehren wir uns instinktiv gegen den wenig schmeichelhaften Vergleich. Eine Konfirmandin sagte einmal nach dem Beten des 23. Psalms: „Ich bin doch kein Schaf!“. Nein, Schafe wollen wir nicht sein.

Zugleich aber entdecken wir in uns und unter uns Sympathien für das Bild vom Guten Hirten, das offenkundig tiefe Schichten unserer Seele anzurühren vermag. Anders läßt sich die hohe Wertschätzung des 23. Psalms nicht erklären. In seinen Worten und Bildern spricht sich offenbar das Verlangen vieler Menschen nach Schutz und Geborgenheit aus. Als Seelsorger erlebte ich immer wieder in Trauerhäusern, an Krankenbetten und Sterbezimmern, wie dieser Psalm vielen Menschen auf der Zunge liegt, die in Not sind.

Doch um das Bild des Guten Hirten besser zu verstehen, das Jesus hier gebraucht, müssen wir uns kurz informieren über das, was die Bibel, besonders das Alte Testament über den Hirten sagt und welche Bedeutung dieser Beruf in der damaligen Zeit hatte.

Das Land der Bibel – ein Land der Hirten

Große Teile Palästinas, des Landes der Bibel, und darüber hinaus Vorderasiens insgesamt, eignen sich nicht für Ackerbau; deshalb gab und gibt es bis heute neben seßhaften Bauern immer auch Nomaden, die mit ihren Schaf- und Ziegenherden die karge Steppenlandschaft durchziehen.

In biblischer Zeit war das Leben der Hirten mit erheblichen Gefahren verbunden: Räuber lauerten den einsamen Herden auf, wilde Tiere mußten abgewehrt werden, Streitigkeiten um Brunnen und Weidegründe mußten durchgestanden werden. Die Stammväter Israels selbst waren solche Hirten: Abraham, Isaak und Jakob.

Kein Wunder, daß das Bild des Hirten in der nomadischen Kultur zum Bild des verantwortungsbewußten Herrschers überhaupt wurde. So nannten z.B. die Sumerer, die Babylonier, die Assyrer und die Griechen zur Zeit Homers ihre Könige ,,Hirten“. Doch in Israel blieb dieser Ehrenname immer nur einem vorbehalten: Gott selbst, dem einzigen und wahren Hirten seines Volkes.

In späterer Zeit zählte der Hirtenberuf zu den verachtetsten Berufen überhaupt. In der Weihnachtsgeschichte, wird gerade deshalb den verachteten und geringgeschätzen Hirten die Ehre zuteil, dem Erlöser als erste zu begegnen.

Doch Jesus gebraucht das Bild des Hirten wieder eindeutig positiv: Er selbst sieht sich als Hirte gesandt ,,zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“; er spricht davon, er sei gesandt, ,,,zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10); ja, er bezeichnet sich als den vertrauenswürdigen guten Hirte, ,,der sein Leben läßt für seine Schafe“:

Gute und böse Hirten

Dieses Bild vom guten Hirten läßt sich letztlich nur begreifen vor dem Hintergrund der Warnung vor bösen Hirten, wie wir sie vorhin in der Schriftlesung gehört haben.

Solche ,,Hirten, die sich selber weiden“, gab uns gibt es auch in unserem Jahrhundert mehr als genug! – „Führer, befiehl, wir folgen!“ – hörte man vor gar nicht allzulanger Zeit von vielen Schafen in der großen Herde Deutschland. – Man kann an die Führungsclique in der ehemaligen DDR denken, die den Staat als Selbstbedienungsladen betrachtete; man kann sich an Ferdinand Marcos, den früheren Diktator der Philippinen, erinnern oder an Haile Selassie, den äthiopischen Kaiser, oder an Schah Resa Pahlewi aus Persien, die Milliarden ins Ausland schafften, während sie ihr eigenes Volk hungern ließen; man kann aber auch die Abgeordneten und Politiker unseres eigenen Landes im Auge haben, denen die Erhöhungen ihrer Diäten wichtiger zu sein scheinen als die Absicherung der sozial Schwachen, ja, die sich nicht einmal scheuen, von anderen Opfer zu verlangen, während sie gleichzeitig darauf bedacht sind, ihre eigenen Privilegien auszubauen.

Ihnen allen schleudert der lebendige Gott sein ,,Wehe“ entgegen: ,,Wehe, ich will ein Ende damit machen … – Ich werde mich selber meiner Herde annehmen und sie suchen … – Ich will sie so weiden, wie es recht ist“.

Der Gute Hirte: Jesus

,,Weiden, wie es recht ist …“ In der Sendung des Menschen Jesus von Nazareth hat Gott dieses Versprechen eingelöst! In die Enttäuschung der Menschen über die vielen, die nur ,,sich selber weiden“ hinein, spricht Jesus sein Angebot: ,,Ich bin der gute Hirte; der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe …“.

Jesus knüpft damit an uralte Vorstellungen seines Volkes an, an Sehnsüchte, die auch wir noch in uns tragen: nach Verläßlichkeit, nach Ehrlichkeit, nach Zuwendung, nach Geborgenheit.

Aber Jesus gebraucht die Selbstbezeichnung ,,Hirte“ nicht selbstherrlich wie die altorientalischen Könige, die sich durchweg als Menschenverächter und Zyniker und damit als ,,böse Hirten“ erwiesen, sondern er löst das ein, was er sagt: Er läßt tatsächlich sein Leben für die Seinen!

Das ist der große Unterschied zwischen Jesus und allen anderen, die für sich beanspruchten und noch immer beanspruchen, ,,Hirten ihrer Herde“ zu sein: Jesus erweist sich wirklich als ,,Guter Hirte“! In seiner Person erfüllt sich, was im Jesajabuch prophezeit ist: ,,Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen …“ (Jes 40,11).

Jesus sammelt tatsächlich die um sich, die von anderen aufgegeben wurden; er bemüht sich um Ausgestoßene und schuldig Gewordene: die Aussätzigen, die Zöllner und Sünder, die Huren und sogar für den Mörder, der neben ihm am Kreuz hängt, hat er ein erlösendes Wort. Ja, er geht in seiner Liebe so weit, daß er sein Leben für sie alle, für uns alle läßt! Der Gute Hirte wird der Gekreuzigte! Insofern ist der Wechsel der Symbole in der frühen Christenheit: vom Hirten zum Gekreuzigten – berechtigt und sinnvoll. Darum sehen wir in dieser Kirche in Bitzfeld ein Kreuz und wenn wir darauf schauen, dann dürfen wir in dem Mann am Kreuz den erkennen, der für uns da, der sich für uns eingesetzt hat als wahrer, rechter, einziger Hirte.

Unsere Aufgabe: Hirte-Sein

Liebe Gemeinde, der Gute Hirte führt die Seinen zusammen. Aber er macht uns auch gegenseitig füreinander verantwortlich. Er verpflichtet uns zu gegenseitigem Dienst, zum ,,Hirte-Sein“ füreinander: ,,Ich habe noch andere Schafe …“; die Fürsorge des Guten Hirten macht nicht einmal an Gemeindegrenzen Halt! Jesus steht eine weltweite Gemeinschaft vor Augen, eine wahre Ökumene, wie wir sie uns noch kaum vorstellen können. Es geht ihm um die Zusammengehörigkeit aller. Es geht ihm um unsere gemeinsame Verantwortung für die eine Welt. Mit Idylle hat das alles nichts mehr zu tun!

Vielmehr erlangt das Bild der Herde unter einem Hirten existentielle Bedeutung: Wenn wir es nicht schaffen, friedlich in der einen, kleingewordenen Welt zusammenzuleben, werden wir keine Zukunft haben. Wollten wir uns aus eigener Kraft daranmachen, die Welt zu verändern, wir wären hoffnungslos überfordert. Doch das Bild des Guten Hirten Jesus von Nazareth kann uns zeigen, wohin wir als Christen gehören. Wir haben einen, der uns zusichert: ,,Niemand wird mir die Meinen aus meiner Hand reißen“. Im Vertrauen auf diese Zusicherung können wir es wagen, uns für andere einzusetzen – und damit selbst versuchen, uns als ,,Gute Hirten“ zu erweisen, die dem nachfolgen, in dessen Hand sie sind.

Amen.

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